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Inklusion in Südtirol: Wie machen das eigentlich die Anderen?
Warum gab es die letzten Jahrzehnte in Südtirol einen so ganz anderen bildungspolitischen Kurs als in sprachlich und kulturell verwandten Ländern? Kurz gesagt: Es kamen der 1. und der 2. Weltkrieg dazwischen. Südtirol fiel letzten Endes Italien zu und in Italien werden die bildungspolitischen Grundprinzipien und Schulgesetze seit 1919 zentral in Rom erlassen. Seit 1977 besuchen nahezu alle Kinder die allgemeine Schule. Es gibt weder Sonderschulen noch Sonderklassen, der Integrationsanteil liegt damit bei 100%. Der Inklusionsanteil, also die effektive Teilhabe am Leben und Lernen, ist schwieriger zu messen. Integration und Inklusion sind somit nicht synonym, auf jeden Fall aber komplementär zu verstehen.
Wie kam es aber überhaupt zu dieser Entwicklung?
1923 erließ der damalige Bildungsminister Giovanni Gentile das gleichnamige Gesetz, die „lex Gentile“, welches bis 1963 bestand hatte. Diese lex Gentile beinhaltete erstmals eine Ausdehnung der Schulpflicht auf Kinder mit Hör- und Sehbeeinträchtigungen, abgetrennte Sonderklassen in allgemeinen Grundschulen, einige Sonderschulen für bestimmte Beeinträchtigungen und Sondereinrichtungen für schwer- und mehrfach beeinträchtigte Kinder (sehr oft mit angeschlossenen Heimen).
1963 erfolgte schließlich die Einheitsmittelschule für die 6. bis 8. Klasse mit folgenden Merkmalen: Als Gesamtschule wurde sie als Schule für „alle“ postuliert. Sie war wohnortnahe mit einem festen Einzugsgebiet (Wahlfreiheit war nur mit sehr strengen und begrenzten Auflagen möglich) und es gab einen Abschluss mit einer Staatsprüfung für „alle“. Im Gesetz stand tatsächlich „alle“, jedoch blieben Sonderschulen und -klassen weiter bestehen, was schnell zu Protesten führte. So kam es jährlich zum 1. Oktober, welcher damals immer der erste Schultag war, zu Demonstrationen von Eltern und dem damaligen Novum, dass diese ihre beeinträchtigten Kinder dazu mitnahmen und skandierten:
„Am 1. Oktober fängt für alle Kinder die Schule an, für alle Kinder, außer für unsere Kinder!“
1977 – Italien übernimmt Vorreiterrolle im Bereich der schulischen Inklusion
Es brauchte dennoch bis 1977, bis der im Gesetz postulierte Anspruch der Mittelschule, Schule für ALLE zu sein, Realität wurde. Mit dem Gesetz Nr. 517 übernahm Italien 1977 somit weltweit die Vorreiterrolle im Bereich der schulischen Inklusion. Alle Sonderschulen, -klassen und -einrichtungen wurden geschlossen, die allgemeinen Schulen mussten alle schulpflichtigen Kinder aufnehmen und die Aufgabe der Integration wurde nicht der einzelnen Lehrperson, sondern dem gesamten Lehrerkollegium, der Einzelschule als „lernende Organisation“ übertragen. Weitere wichtige Inhalte des Gesetzes waren eine reduzierte Klassengröße bei Integration (max. 20), zusätzliche Personalressourcen für „Stützlehrpersonen“ und „Behindertenbetreuer/innen“ sowie verpflichtende und verbindliche Dokumente bei denen auch die Eltern mit einbezogen werden mussten, wie v.a.:
- Funktionsdiagnose (Sanität – Einverständnis der Eltern)
- Individueller Bildungsplan (Lehrer/innenteam – Mitwirkung und Einverständnis der Eltern)
- Funktionelles Entwicklungsprofil (Lehrer/innenteam – Mitwirkung und Einverständnis der Eltern)
Die Lehrer/innen haben zu Beginn vor allem die Mitschüler/innen beeinträchtigter Schüler/innen in die aktive Inklusion eingebunden, was auch ein wesentlicher Gelingensfaktor für die Inklusion an einer Schule ist. Man gewann die Erkenntnis, dass noch wichtiger als Klassengrößen oder Ressourcen, die Haltung bzw. Einstellung der Gruppe für erfolgreiche Inklusion essentiell ist.
Die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention
Gesetzliche Weiterentwicklungen fanden 1987 statt, indem nun auch die Oberschulen und vor allem die Kindergärten (welche man 1977 vergessen hatte) mit einbezogen wurden. 1992 folgte ein Rahmengesetz, welches alle Bestimmungen zu Integration und Inklusion zusammenfasste (Unterstützungsmaßnahmen, Mobilität, Wohnen, etc.) und so war die darauf folgende Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention kein großer Einschnitt in die Gesetzeslandschaft Südtirols mehr. Lediglich der Begriff der Inklusion rückte damit stärker ins Zentrum der Diskussion. Damals eher ersetzend (von der Integrations- zur Inklusionslehrkraft), wird der Terminus heute – wie eingangs kurz erwähnt – differenzierend verwendet. Die Entwicklung in Südtirol wurde schließlich 2015 vorerst abgeschlossen, mit dem Gesetz zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung (Leistungen zum Nachteilsausgleich). Die Bildungspflicht gilt heute für alle Kinder bis zum 18. Lebensjahr – unabhängig von Beeinträchtigungen, Migrationshintergrund, etc.
Der individuelle Bildungsplan
Kernstück der Individualisierung des Lernens ist der individuelle Bildungsplan (IBP) für alle Schüler/innen mit besonderem Bildungsbedarf. Liegt eine Diagnose (Behinderung), ein klinischer Befund (Lern- und Entwicklungsstörung) oder ein KR-Beschluss (soziale, kulturelle, sprachliche ect. Benachteiligung) vor, muss dieser Plan erstellt werden für eine aktive Teilhabe am gemeinsamen Lernen. Der IBP ist ein verpflichtendes und verbindliches Dokument für alle spezifischen pädagogischen und didaktischen Maßnahmen, eine fächer- und personenübergreifende Vereinbarung für wiedererkennbare, unterstützende Lernsettings. Die Erstellung, Verifizierung und Weiterentwicklung erfolgt dabei immer unter Einbeziehung der Schüler/innen und Eltern (Eltern müssen unterschreiben, sonst gilt der IBF nicht). Je nach Diagnose und/oder Situation können die individuellen Ziele in den verschiedenen Fachbereichen jeweils im Rahmen der Abschlusskompetenzen liegen (zielgleich) oder völlig individuell festgelegt werden (zieldifferent). Bezugsgrundlage für den Unterricht sind dabei Lernstandsüberprüfungen und Bewertungen.
3 zentrale Berufsbilder in den Klassen
An den Schulen in Südtirol gibt es drei zentrale Berufsbilder in den Klassen. Zum einen Klassen- und Fachlehrpersonen, deren Aufgabe es ist, individuelle Lernwege anzubieten und alle Kinder mit jeweils anspruchsvollen Aufgaben rund um ein gemeinsames Thema zu versorgen. Integrationslehrpersonen (1 Stelle je 100 Kinder) werden der Klasse zugewiesen, um die Inklusionskompetenz einer Klasse bzw. eines Klassenrats durch Teamunterricht und individueller Förderung zu erhöhen. Mitarbeiter/innen für die Integration (ca. 225 Stellen) sind hingegen als persönliche Assistenz den Schüler/innen zugewiesen, um fehlende Autonomie und Selbstständigkeit auszugleichen.
Eine solch heterogene Schule muss sich weiterentwickeln. Da diese Schulentwicklungsmaßnahmen, welche jede einzelne Schule für sich leisten muss, auch überfordern können, hat Südtirol ein Beratungs- und Unterstützungssystem (fünf pädagogische Beratungszentren) dafür aufgebaut. Auch ehemalige Sonderschulen, etc. haben sich weiterentwickelt und bieten in diesen fünf Zentren, integriert mit ihrem fachlichen Know-how, Supportleistungen (Schul- und Unterrichtsentwicklung, Integrationsberatung, Gesundheitsförderung, etc.) in Form von Schulberatung und Unterstützung an.
Auch die Schulen in Österreich stehen vor der Herausforderung einer Weiterentwicklung im Bereich Inklusion. Vielleicht gelingt es uns im Rahmen der Schulautonomie und der damit einhergehenden Neuorganisation der Behörden als Bildungsdirektionen, die über einen Fachbereich Inklusion, Diversität und Sonderpädagogik verfügen, die inklusive Schule noch stärker im österreichischen Bildungssystem zu verankern, als dies bisher der Fall ist.
Welche neuen Regelungen es in Österreich im Fachbereich Inklusion, Diversität und Sonderpädagogik (FIDS) gibt lesen Sie im Beitrag von Daniela Geiderer, „Neue Regelung des Fachbereichs Inklusion, Diversität und Sonderpädagogik (FIDS)„.
Quelle: Vortrag Franz Lehmayr, Fachstelle für Inklusion und Gesundheitsförderung in Bozen (Sep.2017)