Mit dem Newsletter zur Schulautonomie informieren wir Sie regelmäßig über alle Neuerungen auf dem Blog sowie über spannende Themen rund um Schulautonomie und Bildungsreform.
„Kinder, die heute geboren werden, werden in Berufsfeldern arbeiten, die wir noch gar nicht kennen.“
Doris Wagner ist seit Mai 2021 im BMBWF als Sektionsleiterin für die
Sektion I und damit für die Bereiche Allgemeinbildung und Berufsbildung verantwortlich. Im Interview spricht sie über ihren Werdegang, ihre persönlichen bildungspolitischen Ziele, aktuelle Herausforderungen für die Allgemein- und Berufsbildung, die neuen Lehrpläne für die Primar- und die Sekundarstufe als Teil der umfassenden Reformmaßnahmen des Pädagogik-Pakets und die Bedeutung der Schulautonomie.
Sie blicken auf eine langjährige Erfahrung im Bildungssystem zurück. Können Sie kurz den Weg nachzeichnen, der Sie hierhergeführt hat?
Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich wirklich alle Stufen im schulischen Bildungswesen absolviert habe. Nach einiger Zeit in der Privatwirtschaft bin ich zunächst an der Landesberufsschule St. Pölten gestartet. Dort habe ich mehr als 10 Jahre die betriebswirtschaftlichen Fächer und Sprachen unterrichtet, bin dann stellvertretende Leiterin und schließlich auch kurz Schulleiterin geworden. 2003 bin ich in die Schulaufsicht gewechselt – als Zuständige für einen Teil der niederösterreichischen Berufsschulen – und damit von der Schulorganisation auf die Ebene des Schulqualitätsmanagements gewechselt. 2018 kam der nächste Schritt, als ich die Leitung des Bereichs Pädagogischer Dienst in der Bildungsdirektion Niederösterreich übernommen und damit den Radius von einer Schulart auf alle Schularten ausgeweitet habe. Diese Verantwortung für die Vielfalt des niederösterreichischen Bildungswesens war enorm spannend. Seit dem Wechsel ins BMBWF kann ich nun bundesweite Verantwortung übernehmen und das Bildungssystem insgesamt mitgestalten. Und ich muss sagen, die Möglichkeiten, die das Bildungssystem in Österreich bietet, sind großartig. Es ist für jedes Talent, für jede Neigung, für jede Begabung etwas dabei. Wichtig ist, dass wir Schülerinnen und Schüler gut bei ihrem Entscheidungsprozess begleiten und sie beim Setzen der nächsten Schritte unterstützen.
Sie sind in einer sehr turbulenten Zeit ins BMBWF gewechselt. Was sind Ihre persönlichen Ziele als Sektionschefin?
Besonders interessant im BMBWF ist für mich, wie gesagt, bundesweite Verantwortung zu übernehmen – Verantwortung dafür, dass die Bildung für die jungen Damen und Herren zeitgemäß aufgestellt ist, damit sie gute Zukunftschancen haben. Es ist eine sehr herausfordernde und gleichzeitig sehr schöne Aufgabe, Einfluss darauf zu nehmen, wie die einzelnen Elemente der Bildung zu einem stimmigen Gesamtbild zusammengefügt werden. Wir haben aktuell sehr spannende Projekte, die dazu beitragen, dass dies gelingt. Nehmen wir zum Beispiel die neuen Lehrpläne für die Primarstufe und die Sekundarstufe I, die mittlerweile kurz vor der Fertigstellung stehen. Wir stärken damit den kompetenzorientierten Unterricht und schaffen die Grundlage für einen zeitgemäßen und zukunftsorientierten Unterricht für die nächste Generation. Mit der Überarbeitung der Lehrpläne der Berufsbildung ist auch schon das nächste spannende Projekt in der Pipeline. Hier orientieren wir uns natürlich sehr stark an Qualifikationen, die zukünftig wirtschaftlich und arbeitsmarktpolitisch relevant sind oder sein könnten und berücksichtigen Fragen, wie: Welche Qualifikationen braucht es in der Zukunft? Was müssen Schülerinnen und Schüler ins Arbeitsleben mitnehmen? Aber auch: Welches Fundament brauchen Schülerinnen und Schüler, damit sie für eine tertiäre Ausbildung vorbereitet sind?
Sie haben die neuen Lehrpläne angesprochen. Lehrpläne sind das Herzstück der Bildungsarbeit, die Grundlage für die Planung und Gestaltung des Unterrichts. Können Sie uns mitnehmen: Was wird sich konkret bei den Lehrplänen der Primarstufe und der Sekundarstufe I ändern?
Ein Lehrplan ist das Fundament, sozusagen die Bibel der Pädagogik, denn hier sind die wesentlichen Leitlinien verankert. Ein guter Lehrplan muss einerseits die wesentlichen pädagogischen Eckpunkte festlegen, aber andererseits auch genügend Flexibilität und Spielraum für zukünftige Themen im Unterricht bieten. Die Kunst ist es, einen Lehrplan so auszugestalten, dass er auch in einer sich ständig schnell verändernden Welt über einen Zeitraum von mehreren Jahren seine Aktualität behält. Ich denke, das ist uns sehr gut gelungen: Die neuen Lehrpläne für die Primarstufe und die Sekundarstufe I sind Lehrpläne für die nächste Generation. Wir haben die Kompetenzorientierung noch stärker verankert und einen starken Fokus auf die „21st Century Skills“, konkret auf die „4K“: Kommunikation, Kreativität, kritisches Denken und Kooperation, gelegt.
Inhaltlich, also in Bezug auf den Lehrstoff, haben wir die Lehrpläne ein Stück weit „entrümpelt“. Im Zentrum steht jetzt noch stärker der Aufbau von Kompetenzen: auf der einen Seite natürlich von fachlichen Kompetenzen, auf der anderen Seite aber auch von personalen und sozialen Kompetenzen, die auch im Berufsleben immer wichtiger werden. Daneben holen wir auch die bisherigen „Unterrichtsprinzipien“ als „übergreifende Themen“ stärker in den Vordergrund, insbesondere dadurch, dass in den Fachlehrplänen die Bezüge zu den übergreifenden Themen klar ausgewiesen werden. Zudem forcieren wir mit den neuen Lehrplänen auch die fächerübergreifende Unterrichtsarbeit und rufen Pädagoginnen und Pädagogen vermehrt zu Teamarbeit auf. Besonders stolz sind wir darauf, dass es uns gemeinsam gelungen ist, in der Sekundarstufe I „Digitale Grundbildung“ als Pflichtgegenstand mit einem zusätzlichen Stundenvolumen einzuführen.
Die neuen Lehrpläne stehen ja nicht alleine, sie sind Teil eines größeren Gesamtpakets, des sogenannten „Pädagogik-Pakets“. Können Sie uns einen Einblick geben, was dieses Paket als Ganzes ausmacht? Was ist die Vision? Wie werden Schülerinnen und Schüler davon profitieren?
Wir bringen jetzt wirklich ein großes Reformpaket in die Klassenzimmer. Es besteht aus vielen Teilpaketen, die sich zu einem großen Ganzen zusammenfügen, um ihre Wirkung bestmöglich entfalten zu können. Wir beginnen bei den Schulanfängerinnen und -anfängern und spannen den Bogen bis über das Ende der Schulpflicht hinaus. Im Zentrum steht dabei immer die Kompetenzentwicklung der Kinder und Jugendlichen. Zu den einzelnen Teilprojekten:
Wir starten mit dem Schuleingangsscreening, das die Schulleitungen dabei unterstützt, die Schulreife festzustellen. Vor allem aber wird genauer unter die Lupe genommen, wo die Kinder in ihrer Entwicklung stehen, und wie sie darauf aufbauend schon vor Schuleintritt aber auch in der Schuleingangsphase bestmöglich gefördert und unterstützt werden können.
Das große Paket der neuen Lehrpläne haben wir bereits angesprochen. Ergänzend dazu entwickeln wir Kompetenzraster. Kompetenzraster sind ein pädagogisches Instrument für Lehrerinnen und Lehrer, ein zusätzliches Werkzeug, das bei der Planung und Gestaltung des Unterrichts und bei der Einschätzung der Lernfortschritte unterstützt. Die im Lehrplan grob gefassten Kompetenzziele werden in den Kompetenzrastern konkretisiert, indem dargestellt wird, wie gut etwas gekonnt werden soll. Sie sind also eine Unterstützung für die Pädagoginnen und Pädagogen vor Ort und können im Gegensatz zum Lehrplan, wenn es notwendig ist, auch relativ rasch angepasst werden.
Mit der iKMPLUS haben wir ein ausgezeichnetes Instrument, wo die Ergebnisrückmeldungen relativ rasch verfügbar sind und somit zur Förderung der Schülerinnen und Schüler im Unterricht genutzt werden können. Bereits ab der 3. Schulstufe können damit die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler standardisiert sichtbar gemacht werden. Durch die Erhebungen in zwei aufeinanderfolgenden Schuljahren – also in der 3. und 4. bzw. in der 7. und 8. Schulstufe – wird erstmals auch die standardisierte Beobachtung von Lernfortschritten möglich. Eingebettet in das Gesamtbild zum aktuellen Lernstand bilden die Ergebnisse der iKMPLUS eine hervorragende Grundlage für die gezielte Förderung der Schülerinnen und Schüler, aber auch dafür, den eigenen Unterricht weiterzuentwickeln.
Ab der 7. Schulstufe müssen sich Schülerinnen und Schüler zunehmend Gedanken machen, wie es auf ihrem persönlichen Bildungsweg weitergeht. Mit dem Bildungs- und Berufsorientierungstool stellen wir hier ein Instrument zur Verfügung, das ihnen eine erste Hilfestellung bei dieser Orientierung bietet. Gleichzeitig können Pädagoginnen und Pädagogen mit diesem Instrument den Berufsorientierungsprozess gut begleiten und Schülerinnen und Schüler gezielt unterstützen.
Mit der Einführung der Bildungspflicht legen wir den Fokus schließlich noch einmal deutlicher darauf, dass wirklich alle Schülerinnen und Schüler jene grundlegenden Kompetenzen in Deutsch, Mathematik und Englisch erwerben, die sie für ihren weiteren Bildungs- bzw. Berufsweg benötigen. Sind diese Grundkompetenzen bis zum Ende der allgemeinen Schulpflicht nicht erreicht, schärfen wir hier mit gezielten Fördermaßnahmen und zielgruppengerechten Förderangeboten nach.
Sie haben die zentrale Bedeutung der Schule zur Vorbereitung auf die Arbeits- und Berufswelt angesprochen. Lassen Sie uns noch einen grundlegenderen Blick auf die Berufsbildung werfen. Österreich gilt hier im internationalen Vergleich als Vorbild. Wo sehen Sie die zentralen Herausforderungen im Bereich der Berufsbildung, damit dies auch so bleibt?
In der Berufsbildung sind wir wirklich ganz weit vorne – europaweit, aber auch weltweit. Wir haben in Österreich eine sehr große Bandbreite an berufsbildenden mittleren und höheren Schulen und das bestens bewährte System der dualen Ausbildung, also der Kombination einer betrieblichen Ausbildung und der Ausbildung an einer Berufsschule.
Grundsätzlich haben wir in der Berufsbildung die Herausforderung, den Jugendlichen sowohl ein allgemeinbildendes Fundament als auch berufliche Qualifikationen zu vermitteln. Die Schülerinnen und Schüler werden also mit Kompetenzen ausgestattet, die sie direkt beim Eintritt in die Arbeitswelt entsprechend umsetzen können. Wenn man sich den Arbeitsmarkt anschaut, sieht man die rasante Weiterentwicklung in vielen Bereichen. Das fordert uns als Bildungsministerium, da die Lehrpläne laufend angepasst werden müssen. Das fordert die Schulen, da sie die entsprechende Ausstattung und Technologien vor Ort haben müssen, und das fordert natürlich die Pädagoginnen und Pädagogen, hier immer am Puls der Zeit zu sein. Das gelingt nur durch ständige Fort- und Weiterbildung.
Obwohl das Bildungssystem im Bereich der Berufsbildung gut aufgestellt ist, ist das Thema Fachkräftemangel nach wie vor ein brennendes. Welche Hebel sehen Sie da im Schulsystem, um dieser Herausforderung zu begegnen?
„Kinder, die heute geboren werden, werden in Berufsfeldern arbeiten, die wir noch gar nicht kennen.“ Vor diesem Hintergrund müssen wir uns die Frage stellen, wie wir Schülerinnen und Schüler ausbilden, damit sie für den zukünftigen Arbeitsmarkt gerüstet sind. Dazu braucht es ein gutes Fundament, ein Set an Basiskompetenzen, und es braucht zusätzlich ein Set an sozialen Skills, aber auch an personalen Kompetenzen.
Im Bereich der Berufsbildung, wo der Übertritt in das Arbeitsleben unmittelbar bevorsteht, orientieren wir uns natürlich sehr stark daran, was derzeit und zukünftig am Arbeitsmarkt gefragt ist bzw. sein wird, und pflegen gute Kooperationen und Abstimmungen mit der Wirtschaft. Vorbereitend auf die Sekundarstufe II setzen wir bereits in der Sekundarstufe I neue Akzente. Ab dem Schuljahr 2022/23 startet beispielsweise ein Schulversuch für eine neue Mittelschulform, die MINT-Mittelschule. Damit wollen wir gezielt junge Damen und Herren ansprechen, auch Naturwissenschaften als Themengebiet für sich zu entdecken. Die Lust am forschenden und entdeckenden Lernen soll geweckt werden, damit Schülerinnen und Schüler später vielleicht vermehrt auch technische Berufe ins Auge fassen. Aber auch in der Primarstufe unterstützen wir unsere Schülerinnen und Schüler durch zahlreiche Projekte in unterschiedlichen Bereichen und zu verschiedenen Themen dabei, herauszufinden, wo ihre Begabungen, Neigungen und Stärken liegen.
Sie haben die Notwendigkeit angesprochen, auf die individuellen Stärken, Neigungen, Begabungen der Schülerinnen und Schüler einzugehen. Sie haben davon gesprochen, wie wichtig es ist, die Anforderungen des Arbeitsmarktes im Auge zu behalten, und Sie haben eine Reihe aktueller bildungspolitischer Maßnahmen angesprochen, damit dies gelingt. Welche Bedeutung kommt dabei der Schulautonomie zu?
Als BMBWF schlagen wir wichtige Eckpfeiler ein, damit die Schülerinnen und Schüler adäquate Rahmenbedingungen für den Aufbau entsprechender Kompetenzen erhalten. Es werden Lehrpläne und pädagogische Leitlinien erstellt, rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen, Qualitätsmanagementsysteme zur Verfügung gestellt, um Schule und Unterricht weiterzuentwickeln. In der jeweiligen Bildungsregion werden die Bildungsangebote gemeinsam mit dem Schulqualitätsmanagement abgestimmt und in regionale Entwicklungspläne eingebettet. Am Schulstandort gestaltet die Schulleitung mit dem Team im Rahmen der Schulautonomie Details aus. Die Schule analysiert, wo sie steht, wo sie hin will und was sie dafür braucht. Schulleitungen spielen im Rahmen des Schulqualitätsmanagements eine zentrale Rolle. Sie sind die Drehscheibe zwischen den formalen Vorgaben und der gemeinsamen Umsetzung von wichtigen Reformvorhaben mit dem Team der Pädagoginnen und Pädagogen in der Klasse. Schulleitungen brauchen ein entsprechendes Know-how, wie Schulentwicklungsprozesse aufgesetzt und Schulentwicklungspläne formuliert werden, damit für Schülerinnen und Schüler das bestmögliche Lernumfeld geschaffen werden kann. Dafür müssen alle am Schulstandort Tätigen gemeinsam Verantwortung übernehmen und Schule und Unterricht laufend weiterentwickeln.